Nr. 4 - Die Geschichte vom Teichhuhn
Diese Begebenheit liegt schon viele Monate zurück, und doch beschäftigt sie mich immer noch, so dass nun vielleicht die Zeit gekommen ist, sie mit Euch zu teilen.
Auf meinen Morgenrunden mit meiner Hündin Krümel komme ich oft auch an einem kleinen Feuerlöschteich vorbei. Er ist schon viele Jahre alt und hat sich mittlerweile zu einem schönen Biotop entwickelt. Am Ufer wachsen Schwertlilien, Schilf und Rohrkolben, Pappeln und Erlen, und viele Tiere haben hier ein Zuhause gefunden. Es ist ein friedlicher und ruhiger Ort.
An jenem Morgen nun war etwas anders. Über das Wasser hinweg hörte ich aufgeregte Vogelstimmen. In den Pappeln schimpften Amseln und Meisen, und auch auf dem Teich selbst hatten sich an einer bestimmten Stelle Enten, Teichhühner und zwei Schwäne versammelt. Es herrschte ein regelrechter Aufruhr.
Ich nahm Krümel sicherheitshalber an die Leine und näherte mich vorsichtig dem Getöse. Der Fußweg verläuft an dieser Stelle dicht am Teich entlang. Zur Linken stehen große Pappeln und andere Bäume, zur Rechten befindet sich gleich der Teich – vom Weg abgetrennt und gesichert durch einen Maschendrahtzaun.
Noch aus einiger Entfernung konnte ich erkennen, was vor sich ging: Ein Teichhuhn befand sich auf dem Weg und wurde immer wieder von mehreren Krähen aus der Luft angegriffen. Die Amseln und Meisen versuchten tatsächlich, die Krähen durch riskante Flugmanöver abzuwehren oder doch zumindest die volle Wucht des Angriffs auf das Teichhuhn abzumildern. Als ich der Stelle recht nahe gekommen war, ergriff das Teichhuhn die Flucht unter dem Zaun hindurch, rutschte die kurze aber steile Böschung hinab und rettete sich aufs Wasser, wo es sogleich von einem anderen Teichhuhn und den Enten umringt wurde.
Das Teichhuhn schien verletzt zu sein. Doch, ja, jetzt konnte ich eine offene Wunde am Rücken erkennen. Das Tier wirkte erschöpft und leicht apathisch und bewegte sich kaum. Ich kam mit etwas hilflos vor. Was sollte ich tun? Eingreifen – oder der Natur ihren Lauf lassen? Auch wenn es uns grausam erscheinen mag, solche Dinge geschehen nun einmal. Wenn das Teichhuhn zu schwach oder krank war, um sich der Angriffe zu erwehren oder in Sicherheit zu bringen, dann war es eben nur eine Frage der Zeit, bis es den Krähen als Futter dienen würde. Durch meine Anwesenheit hatten die Vögel ihre Attacken zwar eingestellt und sich auf die Pappel zurück gezogen, es war aber offensichtlich, dass sie nur darauf warteten, dass ich weiterging.
Allerdings fühlte ich mich für das verletzte Teichhuhn inzwischen verantwortlich (totgehackt zu werden, stelle ich mir schrecklich vor), und auch der mutige Versuch der anderen Vögel, die Krähen abzuwehren, hatte mich beeindruckt. Ich verfluchte mich, dass ich – mal wieder – mein Handy nicht dabei hatte, um Hilfe oder doch zumindest Rat von einer guten Freundin einzuholen, die schon sehr oft alle möglichen verwaisten oder verletzten Tiere bei sich aufgenommen und aufgepäppelt hatte.
Eine Weile stand ich noch etwas unentschlossen herum, zumal sich inzwischen mein Verstand eingeschaltet hatte: „Wie willst Du das Tier denn überhaupt bergen? Und wo willst Du es hinbringen? Es ist Wochenende, die Tierarztpraxis ist zu. Und überhaupt, Du hast doch gar nichts dabei, um den armen Vogel sicher nach Hause zu transportieren. Und vielleicht will das Teichhuhn ja auch gar nicht von Dir gerettet werden, sondern würde Todesängste ausstehen, wenn Du es anfasst…“.
Als plötzlich einer der Schwäne ebenfalls zum Angriff auf das Teichhuhn übergehen wollte, gab ich mir einen Ruck!
Ich redete beruhigend und etwas tadelnd auf den Schwan ein, er möge doch bitte das arme Teichhuhn in Ruhe lassen, was er zu meiner Überraschung auch sogleich tat, und kletterte über den Zaun, der zum Glück nur etwa hüfthoch ist. Mit einer Hand hielt ich mich daran fest, suchte mit den Füßen Halt am rutschigen Ufer und redete weiter beruhigend sowohl auf den Schwan, das Teichhuhn und inzwischen auch auf Krümel ein, die das ganze Treiben doch etwas beunruhigend fand und aufgeregt am Zaun entlanglief. Die Krähen wiederum schienen zu ahnen, was ich vorhatte, ließen mich nicht aus den Augen und schimpften lauthals von einem dicken Ast herab. Wir alle zusammen müssen ein seltsames Bild abgegeben haben, aber es war ja niemand da, der uns hätte sehen können. Aber auch niemand, der uns hätte helfen können.
Was also nun? Das Teichhuhn war nicht allzu weit vom Ufer entfernt, aber doch zu weit, als dass ich es ohne ins Wasser zu fallen hätte erreichen können. Die Uferböschung ist an dieser Stelle wirklich ziemlich steil. Wie sollte ich das arme Tier nur sicher an Land holen?
Ich stand damals noch recht am Anfang meiner Tätigkeit als Tierkommunikatorin, und es dauerte tatsächlich noch einige Augenblicke, bis mir die Idee kam, einfach direkt zu dem Wasservogel zu sprechen. Ich schloss also – am Zaun hängend und mit Mühe und Not nicht selbst ins Wasser fallend – die Augen, atmete tief durch und versuchte, meinen Geist zur Ruhe zu bringen, um eine Herz-zu-Herz-Verbindung zu dem verletzten Teichhuhn aufzubauen. Ich bin heute noch dankbar, dass es so schnell klappte. Ich erklärte dem Teichhuhn, wer ich war und was ich vorhatte, ließ ihm aber auch die Wahl, ob es gerettet werden wollte. Ich sagte: „Wenn ich Dich retten soll, dann komm bitte näher ans Ufer, damit ich Dich ohne Probleme erreichen kann.“
Ich traute meinen Augen kaum, aber als ich sie öffnete, kam das Teichhuhn tatsächlich langsam und beinahe wie von Geisterhand bewegt näher. Das Wasser blieb spiegelglatt, ich sah sich keinen Schwimmfuß oder auch nur eine Feder rühren, aber da war das Tier, direkt am Ufer, in greifbarer Nähe!
Ich löste meinen Schal mit einer Hand, griff damit vorsichtig unter Wasser und hob den Vogel behutsam empor. Noch während ich das Tier ergriff, fragte ich mich, wie ich weiter vorgehen sollte, denn ich hatte ja nur die eine Hand frei – mit der anderen klammerte ich mich immer noch am Zaun fest. Und es geschah ein weiteres Wunder: Den Blick noch nach unten auf das Teichhuhn in meiner Hand gerichtet, hörte ich auf einmal die muntere Stimme meiner Freundin, die ich zuvor hatte anrufen wollen: „Was machst Du denn da? Fall nicht ins Wasser!“ Sie drehte auch gerade ihre morgendliche Gassirunde und kam zufällig den Weg entlang.
Aber vielleicht gibt es ja gar keine Zufälle?!
Ihr könnt Euch sicherlich meine Erleichterung vorstellen, als ich meiner Freundin den Vogel reichte und zurück über den Zaun kletterte. Auch Krümel schien sehr froh zu sein, mich wieder auf ihrer Seite des Zauns zu wissen.
Wir untersuchten das Teichhuhn genauer. Die Wunde am Rücken war nicht allzu tief, der arme Vogel hatte allerdings eine weitere, ernsthafte Verletzung: Die rechte Seite seines Kopfes war etwas eingedrückt, aus dem Nasenloch floss eine helle Flüssigkeit. Es sah leider nicht gut aus für das Tier.
Meine Freundin wärmte den Vogel in ihren Händen. Er war ganz ruhig und schien sich zu entspannen, als wir ein Stück weiter gingen, um den lärmenden Krähen zu entkommen.
Es dauerte nicht lange, bis das Teichhuhn für immer die Augen schloss. Wir legten es sanft unter einen Baum in der Nähe des Baches, der den See speist, zwischen Büsche und Blumen. Das andere Teichhuhn war uns am Ufer entlang schwimmend gefolgt und schien ebenfalls Abschied von seinem Gefährten nehmen zu wollen.
Diese Geschichte beschäftigt mich bis heute. Es tut mir sehr leid, dass wir dem Teichhuhn nicht mehr helfen konnten. Aber es tröstet mich ein wenig der Gedanke, dass es seine letzten Minuten auf Erden einigermaßen friedlich und ohne Angriffe aus der Luft erleben konnte.
Vielleicht geht es letztendlich darum: Liebevoll gehalten zu werden, um loslassen zu können.